Tote, Verletzte und Tausende, die in Sicherheit gebracht werden mussten: Aserbaidschan hat die Region Bergkarabach angegriffen und das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet unter seine Kontrolle gebracht. Armenische Kämpfer haben kapituliert . Die beiden Länder sind seit Jahrzehnten verfeindet, der letzte Krieg ist drei Jahre her.

Was passiert gerade in Bergkarabach?

Aserbaidschan hat am Dienstag die Region Bergkarabach angegriffen. Der Menschenrechtsbeauftragte der Republik Bergkarabach, Gegam Stepanjan, sprach von 200 getöteten Menschen, darunter zehn Zivilisten, und mehr als 400 Verletzten. Tausende Zivilistinnen und Zivilisten wurden bereits in Sicherheit gebracht. 

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium nannte den Angriff eine "Antiterroroperation lokalen Charakters zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" in der Region. Örtliche Behörden berichteten von Raketen- und Artillerieangriffen. Das Ministerium teilte weiter mit, Kampfstellungen, Militärfahrzeuge, Artillerie- und Flugabwehrraketenanlagen sowie andere militärische Ausrüstung "neutralisiert" zu haben. Aserbaidschan begründete den Einsatz damit, einen Rückzug armenischer Truppen aus dem Gebiet durchsetzen zu wollen. Dieser war nach dem letzten Krieg im Jahr 2020 in einem Waffenstillstand festgeschrieben worden. 

Einen Tag nach Beginn des Angriffs gab es Berichte über eine Feuerpause. Später erklärte der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew den Angriff für erfolgreich beendet, die Souveränität des Landes sei wiederhergestellt worden, sagte er in einer Rede an die Nation. Die Behörden in der nicht anerkannten Republik willigten einer Waffenruhe ein, die auch die Entwaffnung ihrer Kämpfer beinhaltet. Schon an diesem Donnerstag gab es jedoch Berichte, dass Aserbaidschan die Waffenruhe gebrochen habe.

In Aserbaidschan starten derweil Gespräche über eine Wiedereingliederung Bergkarabachs in Aserbaidschan. Dafür ist eine armenische Delegation in der aserbaidschanischen Stadt Yevlax eingetroffen.

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Wie geht es für die armenische Bevölkerung weiter?

Evakuierungsmaßnahmen in Bergkarabach laufen. Vor Ort stationierte russische Soldaten hätten bislang etwa 5.000 Karabach-Armenier aus besonders gefährlichen Orten der belagerten Region herausgebracht, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau an diesem Donnerstag mit. Der Menschenrechtsbeauftragte der Republik Bergkarabach hatte tags zuvor von mehr als 7.000 Zivilistinnen und Zivilisten gesprochen, die nach seinen Angaben aus mehr als 16 Orten in Sicherheit gebracht wurden. Sie seien aus Gemeinden in den Regionen Askeran, Martakert, Martuni und Schuschi gerettet worden, sagte Gegam Stepanjan. Viele Menschen fürchten nun, aus ihrer Heimat vertrieben zu werden oder zum Ziel aserbaidschanischer Gewalt zu werden, sollten sie bleiben.  

Die EU forderte unterdessen Sicherheitsgarantien für die dort lebenden Armenier. EU-Ratspräsident Charles Michel habe in einem Telefonat mit Präsident Alijew deutlich gemacht, dass dessen Land sicherstellen müsse, dass Karabach-Armenier respektiert würden und eine Zukunft in Aserbaidschan hätten, sagte ein EU-Beamter. Für diejenigen, die Bergkarabach verlassen wollten, müssten Bedingungen für eine sichere und freiwillige Ausreise geschaffen werden.

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Wie reagiert die internationale Gemeinschaft?

Russland begrüßte die angekündigten Gespräche über die Wiedereingliederung. "Zweifellos ist Bergkarabach eine innere Angelegenheit Aserbaidschans", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. "Aserbaidschan handelt auf seinem eigenen Territorium", das sei von der Führung Armeniens anerkannt worden. Zuvor hatte Russland dazu angerufen, die Auseinandersetzungen zu beenden und zum Waffenstillstand zurückzukehren. "Vor dem Hintergrund der starken Eskalation der bewaffneten Konfrontation in Bergkarabach rufen wir die Konfliktparteien auf, das Blutvergießen und die Feindseligkeiten sofort einzustellen und zivile Opfer zu vermeiden", hieß es in einer Erklärung des russischen Außenministeriums auf Telegram. Armenien, das mit Russland durch ein Verteidigungsbündnis verbunden ist, rief russische Truppen zu Hilfe.

Die Europäische Union forderte ein Ende der Kämpfe und erklärte sich ebenso wie die USA bereit, in dem Konflikt zu vermitteln. Der UN-Sicherheitsrat beraumte auf Antrag Frankreichs eine Dringlichkeitssitzung an. Zuvor hatte Armenien den Sicherheitsrat um Hilfe gebeten.  

Auch die Bundesregierung hat von Aserbaidschan ein sofortiges Ende des Angriffs verlangt. "Armenien und Aserbaidschan sind jetzt in einer sehr kritischen Situation, und deshalb ist für uns ganz klar, dass diese Kriegshandlungen sofort beendet werden müssen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Außenministerin Annalena Baerbock forderte, Aserbaidschan müsse an den Verhandlungstisch zurückkehren.  

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Worum geht es im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan?

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan existiert seit dem Ende der Sowjetunion. Im Mittelpunkt steht die Gebirgsregion Bergkarabach, eine mehrheitlich von Armeniern bewohnte Exklave. Bis 1991 hatte diese als autonomes Gebiet zur Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik gehört und dann im Anschluss an eine Volksabstimmung einseitig ihre Unabhängigkeit proklamiert. Darin liegt der Kern des Konflikts, weil zwei völkerrechtliche Prinzipien aufeinandertreffen: einerseits das Prinzip der territorialen Integrität, welches Aserbaidschan geltend macht. Andererseits das Selbstbestimmungsprinzip der Völker, auf das sich Bergkarabach und Armenien stützen.

Der Streit um die Region führte Anfang der Neunzigerjahre zum ersten Südkaukasus-Krieg, der mit einem faktischen Sieg Armeniens endete. Während der zweijährigen Kämpfe wurden Zehntausende Menschen getötet. Mehr als eine Million Menschen wurde vertrieben, darunter 700.000 Aserbaidschanerinnen und 400.000 Armenier. Der Krieg endete im Mai 1994 mit einem Waffenstillstand. Ein Friedensabkommen gelang nicht, der Konflikt galt als eingefroren.

Ende 2020 führten Aserbaidschan und Armenien erneut Krieg um Bergkarabach: Binnen 44 Tagen wurden mehr als 6.600 Menschen getötet. Der Krieg endete mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen, im Zuge dessen Armenien große Gebiete aufgeben musste. In jenen Teilen Bergkarabachs, die weiterhin armenisch verwaltet werden, sind seit der Vereinbarung Tausende russische Soldaten als sogenannte Peace-Keeper stationiert.

Aserbaidschan drängt seit dem Ende dieses Krieges auf ein umfassendes Friedensabkommen, das seine Territorialgewinne festschreiben soll. Zudem machte Präsident Ilcham Alijew zuletzt immer wieder Ansprüche auf Gebiete des armenischen Kernlandes geltend und bezeichnete das Land in Reden als "West-Aserbaidschan".

Innenpolitisch setzte das trilaterale Abkommen von 2020 Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan erheblich unter Druck. Die Opposition macht ihn für die militärische Niederlage gegen Aserbaidschan verantwortlich und sieht in den Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan, zu denen Paschinjan sich seither bereit zeigte, einen Verrat an den nationalen Interessen Armeniens. Sie organisiert deshalb wiederholt Proteste gegen Paschinjans Regierung, bei denen der Regierungschef als "Verräter" bezeichnet wird.  

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Wie werden Armenien und Aserbaidschan regiert?

Als Armenien mit dem Ende der Sowjetunion seine Eigenständigkeit wiedererlangte, etablierte es zunächst ein semipräsidentielles Regierungssystem, wobei dem Präsidenten viel Macht zukam. Ab 2015 begann eine Verfassungsreform, mit der die Kompetenzen des Staatsoberhaupts eingeschränkt wurden und eine parlamentarische Demokratie eingeführt wurde.

Drei Jahre später errangen Protestierende in der sogenannten Samtenen Revolution gewaltfrei einen Regierungswechsel. Darauf folgten erstmals Wahlen in dem Land, welche internationale Beobachter als fair und frei bewerteten und aus denen Regierungschef Nikol Paschinjan als Premierminister hervorging. Als der im Jahr 2020 eine Grundgesetzänderung entgegen der Empfehlung der Europäischen Kommission für Demokratie und Recht durchsetzte, demonstrierten Hunderte gegen ihn. Vor allem die Gebietsverluste, die Armenien nach dem Waffenstillstand akzeptieren musste, brachten viele Armenierinnen und Armenier gegen Paschinjan auf. Er konnte sich in Neuwahlen dennoch im Amt halten.

Auch Aserbaidschan konstituierte sich im Jahr 1991 als eigenständiger Staat. Seitdem stellt der Alijew-Clan den Präsidenten. Das Staatsoberhaupt kann Ministerpräsidenten ernennen und entlassen und muss sich nicht gegenüber dem Parlament verantworten. 2003 übernahm Ilcham Alijew das Amt von seinem verstorbenen Vater und führte dessen autoritäre Politik fort, in der die Opposition, freie Meinungsäußerung und die Medien unterdrückt werden.  

Bei Alijews Wiederwahl im Jahr 2018 stellte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schwerwiegende Unregelmäßigkeiten fest. Aserbaidschan gilt wegen seiner Gasvorkommen, die es seit dem Ukraine-Krieg auch vermehrt nach Europa verkauft, als reichster Staat im Kaukasus.

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Warum greift Aserbaidschan Bergkarabach jetzt an?

Seit der Einigung auf einen Waffenstillstand von 2020 – der von russischen Friedenstruppen überwacht werden soll – ist es immer wieder zu Zusammenstößen in der Grenzregion mit Hunderten Toten gekommen. Zudem blockiert Aserbaidschan seit Monaten den Latschin-Korridor, Armeniens einzigen Zugang zu Bergkarabach.

Während des 44-Tage-Kriegs im Jahr 2020 hat sich gezeigt, dass Russland, das traditionell als Verbündeter Armeniens auftritt, dieser Funktion nicht mehr nachkommt. Beide Länder gehören der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) an, welche ähnlich der Nato über einen Beistandsartikel verfügt, weshalb Russland dem Land eigentlich militärisch hätte beistehen müssen. Trotzdem antwortete die russische Regierung vor drei Jahren nicht auf armenische Forderungen nach Waffenlieferungen und Soldaten. 

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Welche Interessen verfolgt Russland im Bergkarabach-Konflikt?

Wichtigster Akteur im Südkaukasus ist Russland, das in Armenien eine Militärbasis unterhält und als Schutzmacht des Landes gilt. Allerdings pflegt Russland auch enge Beziehungen zur früheren Sowjetrepublik Aserbaidschan. Dass Russland 2020 – wie schon 1994 – einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien vermittelte, war international unterschiedlich aufgenommen worden. Einerseits räumten EU-Vertreter damals ein, dass es das Abkommen ohne Russland nicht gegeben hätte. Andererseits verfestigte sich Russlands Einfluss in der Region durch die Entsendung Tausender Soldaten in Form der sogenannten Friedenstruppen nach Bergkarabach.

Anfang des Jahres 2023 hatte der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan die Sicherheitspartnerschaft mit Russland in einem Interview als strategischen Fehler bezeichnet und eine im Land geplante Militärübung des von Russland dominierten Militärbündnisses OVKS als zwecklos abgesagt. Er deutete an, dass Russland aufgrund des Krieges gegen die Ukraine nicht in der Lage sei, alle Sicherheitsbedürfnisse seines Landes zu erfüllen, und Armenien seine Sicherheit auf eine breitere Grundlage stellen werde.  

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Wer ist noch in den Konflikt involviert?

Bei den Friedensgesprächen spielen seit mehreren Jahren auch die EU und die USA eine Rolle. Armenien arbeitet mittlerweile auch militärisch mit den USA zusammen. Mitte September haben die beiden Länder in Armenien ein gemeinsames Manöver abgehalten – zur Stabilisierung von Konflikten bei der Erfüllung von friedensstiftenden Einsätzen.

Auf Einladung Armeniens ist seit Februar dieses Jahres eine zivile EU-Beobachtermission vor Ort. Die 100 Menschen umfassende Mission wird von einem deutschen Bundespolizisten geleitet und soll zwei Jahre in der Region bleiben.

Eine bedeutende Akteurin im Südkaukasus ist zudem die mit Aserbaidschan verbündete Türkei. Während des Krieges 2020 war befürchtet worden, die türkische Regierung könne den Konflikt nutzen, um ihre Machtposition im Kaukasus auszubauen. Das löste angesichts des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs insbesondere in Armenien viele Ängste aus. Letztlich spielte die Türkei bei der Beendigung des Krieges 2020 keine Rolle. 

Auch Iran, wo sowohl eine armenische als auch eine aserbaidschanische Minderheit leben, bot sich in der Vergangenheit immer wieder als Vermittler an. Das Land gilt mit seiner Unterstützung für Armenien aber ebenfalls als parteiisch. Es sichert dessen Südflanke gegenüber Aserbaidschan ab. 

Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, Reuters und AP

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