Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 42/2023. 

Eigentlich darf man als Journalist einen solchen Text gar nicht schreiben: einen Text, in dem man Menschen empfiehlt, weniger Nachrichten zu konsumieren – das ist ähnlich verrückt, wie wenn ein Bäcker seine Kunden bitten würde, weniger Brötchen zu kaufen.

Doch derzeit stellt sich die Frage: Wie viele Kriegs-, Krisen- und Katastrophenmeldungen kann man bewältigen, ohne in Schockstarre zu fallen? In solchen Zeiten ist es essenziell, weniger nachrichtliches Junkfood zu konsumieren und dafür mehr gehaltvolle Informationen.

Das Problem: Vermutlich wissen Sie das schon. "Klar, Doomscrolling ist schädlich, kennen wir! Das Katastrophen-Durchblättern in den sozialen Medien zieht nur die eigene Laune nach unten, ohne etwas zu bewirken, ist bekannt!" Doch das heißt eben nicht, dass wir angesichts der aktuellen Geschehnisse in Israel nicht doch mit schreckgeweiteten Augen vor dem Bildschirm sitzen würden und uns durch eine schlechte Nachricht nach der anderen klicken – doomscrollen eben. Denn Wissen führt nicht notwendigerweise zum Handeln, wie die Verhaltensforschung aus unzähligen Beispielen weiß.

Auch gut gemeinte Berichterstattung hat Nebenwirkungen

Dennoch kommt es gerade darauf an, Gewohnheiten bewusst zu durchbrechen. Wenn etwa die Hamas Videoschnipsel von Hinrichtungen auf TikTok hochlädt, dann ist das ein bewusster Angriff auf die Psyche des Gegners – und je mehr Menschen dem Impuls folgen, sie anzuschauen und in den sozialen Medien zu teilen, umso größer ist die Wirkung.

Und selbst gut gemeinte Berichterstattung kann unerwartete Nebenwirkungen haben. Statt uns aufzurütteln und Engagement zu fördern – wie es viele Nachrichtenmacher erhoffen –, kann ein Übermaß an Negativmeldungen das Gegenteil hervorrufen: Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Dieser Effekt ist inzwischen durch Studien belegt. Eine der berühmtesten Untersuchungen dazu wurde 2013 nach dem Sprengstoffanschlag auf den Stadtmarathon von Boston gestartet. Damals explodierten auf der Zielgeraden in Boston zwei in Rucksäcken versteckte Sprengsätze, was zu Hunderten von Verletzten und mehreren Toten führte. Ein Forscherteam um die Sozialpsychologin Roxane C. Silver untersuchte daraufhin sowohl Augenzeugen vor Ort als auch Menschen, die das Ganze über die Medien aus der Ferne miterlebt hatten. Das erstaunliche Ergebnis: Jene, die am Bildschirm mehrfach und wiederholt Medienberichte zu dem Attentat verfolgt hatten, wiesen stärkere Stresssymptome auf als die Menschen, die direkt vor Ort waren. "Stress und Ängste können durch zu viel Medienkonsum verschlimmert werden", konstatierte Roxane Silver und riet allen Mediennutzern: "Informieren Sie sich durch zuverlässige Quellen, aber achten Sie darauf, wie viel Zeit Sie in die Nachrichten eintauchen."

Mehr Menschen koppeln sich vom Nachrichtenstrom ab

Auch die Corona-Pandemie lieferte Anschauungsmaterial für den Nachrichtenstress. Eine Studie zeigte: Je mehr Menschen in den Medien nach Informationen über Covid-19 suchten, umso häufiger berichteten sie über emotionale Probleme. Eine andere dokumentierte einen Zusammenhang zwischen der Menge an konsumierten Nachrichten in sozialen Medien und einer höheren Wahrscheinlichkeit, Symptome einer Depression oder posttraumatischen Belastungsstörung zu entwickeln. Manche Psychologen haben ein neues Krankheitsbild ausgemacht: die "headline stress disorder", die Schlagzeilenstress-Störung.

36 % der Befragten weltweit gaben im Jahr 2023 an, nachrichtenmüde zu sein

Immer mehr Menschen koppeln sich deshalb vom Nachrichtenstrom ab, blenden Newsticker oder Brennpunktsendungen bewusst aus und lassen den medialen Informationsfluss nicht mehr an sich heran. News avoidance, Nachrichtenvermeidung, nennt sich das Phänomen, das seit Jahren weltweit zunimmt. Mittlerweile geben 36 Prozent aller Internetnutzer an, dass sie "oft oder gelegentlich" ganz bewusst Nachrichten vermeiden. Das zeigt der kürzlich veröffentlichte Digital News Report des Reuters Institute, für den rund 94.000 Internetnutzer aus 46 Ländern auf sechs Kontinenten befragt wurden.