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Die Entdeckung der Zeit: Warum die mechanische Uhr die Welt veränderte

Foto: FABIO MUZZI/ AFP

Erfindungen Die Entdeckung der Zeit

Anfangs waren die Stunden eines Tages unterschiedlich lang. Dann veränderte die mechanische Uhr das Leben fundamental.

Was also ist die Zeit?
Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's;
will ich's aber einem Fragenden
erklären, weiß ich's nicht.

Augustinus von Hippo (354 bis 430),
Kirchenlehrer und Philosoph

Die Aufregung am Hof Karls des Großen war gewaltig. Was hatte der fränkische Kaiser im Jahr 807 vom Kalifen Harun al-Raschid aus dem Orient doch für eine aufsehenerregende Apparatur geschenkt bekommen!

Eine Zeitmaschine, schlicht ein "Wunderwerk", "mit staunenswerter Kunstfertigkeit zusammengesetzt", wie der Gelehrte Einhard zu Beginn des 9. Jahrhunderts in seiner Biografie über den Herrscher schrieb.

Der aus damaliger Sicht ungemein raffinierte Apparat war eine Wasseruhr: Sie zeigte die Stunden mithilfe von Bronzekugeln an, die in ein Becken fielen und dabei stets einen wunderschönen Klang erzeugten. Um zwölf Uhr mittags sprangen zwölf kleine Reiter aus zwölf kleinen Toren, die sich hinter den Figuren - wie von Geisterhand - wieder schlossen. "Aber noch viel anderes Merkwürdiges war an dieser Uhr zu sehen, was aufzuzählen jetzt zu weit führen würde", hielt Einhard beeindruckt fest. So etwas hatten weder Karl der Große noch sein Gefolge je gesehen.

Die Zeit wurde von der Natur bestimmt

Die meisten Menschen im Früh- und Hochmittelalter kannten keine Uhr - und den Lauf der Zeit nahmen sie grundlegend anders wahr als wir heute. Die Zeit war vor allem der naturgegebene Übergang von Tag und Nacht sowie der Wechsel der Jahreszeiten. Die Menschen erlebten die Zeit nicht als etwas Lineares, etwas Voranschreitendes, sondern betrachteten sie als einen ewigen Kreislauf.

Erst ab dem 14. Jahrhundert begannen die Menschen sich selbst der Zeit zu bemächtigen, schufen kleinere Zeiteinheiten, erfanden die mechanische Uhr. Für den französische Historiker Marc Bloch, einen der bedeutendsten Mediävisten des 20. Jahrhunderts, bewirkten die damaligen Fortschritte in der Zeitmessung einen geradezu fundamentalen Umbruch: Die veränderte Wahrnehmung der Zeit ist für Bloch nicht weniger als "eine der tief greifendsten Revolutionen im intellektuellen und praktischen Leben unserer Gesellschaften und eines der Hauptereignisse der spätmittelalterlichen Geschichte".

Aus SPIEGEL GESCHICHTE 1/2015

Wie aber kam es zu diesem Wandel?

Der herausragende christliche Denker Augustinus hatte an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert die Zeit als von Gott gegeben erklärt. Sie war bestimmt von den Naturzyklen, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang begrenzten den Arbeitstag. Kleinere Zeiteinheiten zu messen war nicht notwendig.

Um Zeitpunkte zu benennen, sagten die Menschen: "nachdem der Hahn gekräht hat", "in der größten Mittagshitze", "bei Einbruch der Dunkelheit", "nach Sonnenuntergang" oder "mitten in der Nacht". In einer Epoche, in der fast alle auf dem Land und von der Landwirtschaft lebten, reichte dieses grobe Zeitraster völlig aus. Anders war es auch in der Antike nicht gewesen, als Griechen und Römer zwar Wasseruhren kannten, die Mehrheit der Menschen aber ohne genaue Zeitangaben lebte.

Die Grundlagen des mittelalterlichen Kalenders hatte der angelsächsische Benediktinermönch Beda Venerabilis im Jahr 725 in seinem Lehrbuch "De temporum ratione" (Über die Zeitrechnung) zusammengeschrieben: Es galt das von Julius Cäsar im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt eingeführte julianische Kalendarium, allerdings erweitert um eine Vielzahl christlicher Feiertage.

Im christlichen Europa verkündete der Pfarrer in der Sonntagsmesse jeweils die Termine der nächsten Woche, etwa den 11. November: Dies war einerseits der Tag des heiligen Martin. Andererseits endete an diesem Tag in vielen Regionen auch das bäuerliche Wirtschaftsjahr, weshalb Pachten und Zinsen fällig wurden und neu zu bestimmen waren.

Die Zahl der kirchlichen Feiertage war beträchtlich: Vermutlich gab es 70 bis 100 Festtage pro Jahr (Sonntage nicht mitgerechnet), also etwa zwei in jeder Woche. So hatten viele Kalenderdaten für die Menschen eine sehr konkrete Bedeutung. Der Tag hingegen als eine auf Erkenntnissen der Astronomie beruhenden Maßeinheit, als Zeitmaß in einem abstrakten Sinn, losgelöst von konkretem Nutzen oder Zweck - das interessierte die Bauern und ihre Familien weder, noch verstanden sie es.

Ganz anders die Mönche in den Klöstern, die seit dem frühen Mittelalter prosperierten: Die Ordensbrüder entdeckten schnell das Bedürfnis, die Zeit genauer und vor allem in kleineren Einheiten fassen zu können. Denn der italienische Abt Benedikt von Nursia, Gründer des Benediktinerordens, hatte im Jahr 529 in den Ordensregeln feste Zeiten gefordert für die Gebete, die Lesungen aus der Heiligen Schrift, für Mahlzeiten, Arbeit und Schlaf.

Um diese Vorschriften einzuhalten, gab es für die folgsamen Brüder nur eine Möglichkeit: Die Zeit musste genau gemessen und strikt eingeteilt werden. Also wurde der Tag in Stunden aufgesplittet - allerdings anders, als wir es heute kennen.

Die Mönche zerlegten jeden Tag und jede Nacht in zwölf exakt gleiche Abschnitte. Dabei verstanden sie unter einem Tag den Zeitraum, an dem es hell war, und unter einer Nacht die Zeit, zu der es dunkel war. Dadurch waren die Stunden je nach Jahreszeit unterschiedlich lang, eine Tagstunde etwa dauerte im Sommer bis zu 80, im Winter dagegen nur rund 40 Minuten. Allein jeweils am 21. März und 21. September, wenn Tag und Nacht gleich lang sind, entsprach eine damalige Stunde einer unserer heutigen Stunden.

Um den Ablauf zu bestimmen, setzten die Mönche unterschiedliche Zeitmesser ein:

  • Sonnenuhren, die mit dem Schatten eines Stabes die Tageszeit verkündeten;
  • Wasseruhren, bei denen in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge Flüssigkeit von einem Gefäß in ein anderes lief, und so die vergangene Zeit erfasst wurde;
  • Öllampenuhren, deren Ölverbrauch die jeweils vergangene Zeit anzeigte;
  • Kerzenuhren, bei denen das Herunterbrennen des Wachses einen Zeitraum bestimmte.

Cassiodor, ein hoher Beamter und Gelehrter im Ostgotenreich des 6. Jahrhunderts, lobte in seinem Lehrbuch für das mönchische Leben Sonnen- und Wasseruhr als höchst nützliche Erfindungen: "Sie sind dafür vorgesehen, die Krieger Christi mit sichersten Zeichen zum Gottesdienst aufzurufen, wie mit schallenden Trompeten."

Doch diese Zeitmesser hatten fundamentale Schwächen: Die Sonnenuhr funktionierte nur bei Sonnenschein, die Wasseruhr musste permanent beaufsichtigt und in Gang gehalten werden. Und beide waren überaus ungenau.

Eine Lösung für dieses Problem fand sich erst im Hochmittelalter. Nun entstand auch außerhalb der Klostermauern langsam der Wunsch, die Zeit genauer fassen zu können. Die Zahl von Händlern, Handwerkern, kleinen Unternehmern und Beamten stieg beträchtlich an. Diese Berufsgruppen verloren den Bezug zum Rhythmus der Natur; die Arbeit vieler Menschen in den größer werdenden Städten wurde unabhängig von den Jahreszeiten, von hell und dunkel.

Die Sünde der Zeitverschwendung

Dafür wurde es für sie zunehmend wichtig, feste Termine vereinbaren zu können, imstande zu sein, sich zu einer vereinbarten Uhrzeit pünktlich zu treffen. Auch die Arbeit wurde immer effizienter organisiert: Etwa ab dem 14. Jahrhundert regelten deshalb in den aufstrebenden Kommunen Italiens, Flanderns und Nordfrankreichs Glocken den Arbeitstag der Tuchmacher in den Webereien und anderen Manufakturen.

Damals entdeckten Moraltheologen auch eine neue Sünde - die der Zeitverschwendung. So verkündete der Dominikaner Domenico Cavalca, gestorben 1342 in Pisa, kategorisch: Der "Müßige, der seine Zeit verliert, der sie nicht bemisst, gleicht den Tieren und verdient es nicht, als Mensch angesehen zu werden".

Es mussten also Uhren her, die zuverlässig waren und leicht zu bedienen; eine grundlegende technische Innovation auf dem Gebiet der Zeitmessung war vonnöten.

Wer das erste mechanische Uhrwerk entwickelte, wann und wo genau - das vermochte die Wissenschaft trotz vielfälti-ger Anstrengungen bis heute nicht zu klären. Allerdings können Historiker den Zeitraum, in dem sich die Zeiger der frühesten mechanischen Uhren zu drehen begannen, ziemlich genau eingrenzen: Es muss wohl um das Jahr 1300 herum geschehen sein.

Ende des 13. bis weit ins 14. Jahrhundert hinein vollzog sich auch der Übergang von den ungleich langen (temporalen) Stunden zu den heute bekannten gleich langen (äquinoktialen) Stunden. Der englische Astronom Robertus Anglicus schilderte bereits im Jahr 1271, dass die Menschen in einigen Städten zu den einheitlichen Stunden übergingen. In einem Bericht über eine Mondfinsternis von 1275 wurde in einem in der österreichischen Gemeinde Klosterneuburg entstandenen Text von "hora sexta diei artificialis", "der sechsten Stunde des künstlichen Tages" gesprochen, ebenfalls ein Hinweis auf die moderne Zeitrechnung. Und der italienische Dichter und Philosoph Dante Alighieri schrieb von gleich langen Stunden in seiner Abhandlung Convivio, die er um 1306 verfasste.

Die erste urkundliche Erwähnung einer mechanischen Uhr stammt nach heutigem Wissen aus dem Jahr 1335. Das technische Meisterwerk war damals in der Kapelle des Mailänder Palastes der Visconti zu besichtigen.

An kirchlichen oder öffentlichen Gebäuden angebrachte Stadtuhren wurden nun zum Symbol für die neue Zeitrechnung. Im Jahr 1336 installierten Handwerker an der Kirche San Gottardo in Mailand die erste Turmuhr, die durch ihren Glockenschlag alle 24 Stunden des Tages angeben konnte. Nur wenige Jahre später, 1344, wurde in Padua am Turm des Stadtherrenpalastes eine ähnliche Uhr montiert. Rasch folgten Städte außerhalb Italiens wie London oder Avignon. Auch in deutschen Landen tauchten nun erstmals öffentliche Zeitanzeiger auf: 1364 wurde in Augsburg eine für die Bürger sichtbare Uhr in Gang gesetzt, 1375 in Hamburg, 1385 in Köln.

Solche Zeitmesser standen für etwas radikal Modernes im menschlichen Denken: Die Zeit wurde unabhängig sowohl von den Erscheinungen der Natur als auch von der Wahrnehmung des Einzelnen, sie war jetzt objektiv messbar.

In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verbreitete sich die mechanische Uhr in den großen Städten Europas. Wobei die meisten dieser Uhren noch keine zwei Uhrzeiger besaßen, sondern oft nur durch einen Stundenzeiger und den Klang der Glocken den Menschen die aktuelle Zeit verkündeten.

Schnell entwickelte sich die Turmuhr zu einem Prestigeobjekt. So befahl 1370 der französische König Karl V., dass alle Glocken von Paris nach der Uhr des Königspalastes auszurichten seien. 1382 beschlagnahmte Philipp der Kühne, Herzog von Burgund, die Turmuhr der flämischen Stadt Kortrijk, um die dortigen Einwohner zu demütigen.

Im Jahr 1481 wurde im Stadtrat von Lyon eine Petition eingebracht, in der es heißt: "Es besteht ein starkes Bedürfnis nach einer großen Uhr. Wenn man eine öffentliche Uhr einrichtet, werden mehr Kaufleute zu den Messen kommen, die Bürger werden fröhlicher und zufriedener leben und ein geordneteres Leben führen, und die Stadt wird an Schönheit gewinnen."

Dabei verschlang eine öffentliche Uhr in der damaligen Zeit ein Vermögen. Hohe Kosten verursachte nicht nur der komplizierte Bau, sondern auch der Unterhalt der anfälligen Geräte. So bezahlte die Stadt Wien spätestens von 1449 an einen Uhrmacher, der die Uhr am Stephansdom unentwegt wartete, justierte und verbesserte. Wobei die frühen mechanischen Uhren ziemlich ungenau gingen, 20 Minuten vor oder nach pro Tag waren keine Seltenheit.

Die frühen Uhrmacher waren von Haus aus meist Schmiede, Schlosser oder Kanonengießer. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts bezeichnete sich beispielsweise ein gewisser Pierre Cudrifin aus Fribourg im heutigen Lothringen als "magister bombardarum et horologiorum" (Meister der Geschütze und Uhrwerke).

Etwa ebenfalls ab 1400 wurden erstmals Federn als Antrieb in den Uhrwerken eingesetzt, womit der Bau von transportablen und kleineren Uhren möglich wurde. So kaufte im Jahr 1481 Ludwig XI. von Frankreich eine "Uhr mit Zifferblatt und Schlagwerk", über die es hieß: "Der König kaufte diese Uhr, um sie überall mit hinzunehmen." Der Herrscher war so stolz auf seinen mobilen Zeitanzeiger, sicher das aufregendste technische Accessoire seiner Zeit, dass er die Uhr sogar auf einem Porträt von sich abbilden ließ.

Am Ende des Mittelalters nahmen die Menschen die Zeit völlig anders wahr als noch 500 oder 1000 Jahre zuvor. Die Zeit war nicht mehr göttlich, sondern weltlich, und der Einzelne war für seinen Umgang damit verantwortlich. Der einflussreiche italienische Architekt und Humanist Leon Battista Alberti (1404 bis 1472) zählte die Zeit jetzt zu den drei grundlegenden Besitztümern des Menschen - neben der Seele und dem Körper.

Die Uhr hat das Bewusstsein der Gesellschaft verändert

Bis in die Gegenwart sollte dieser Bewusstseinswandel enormen Einfluss haben. Lewis Mumford, ein bedeutender US-amerikanischen Gelehrter des 20. Jahrhunderts, nannte in seiner Kulturgeschichte der Technik nicht etwa die Dampfmaschine die Schlüsselmaschine des Industriezeitalters - sondern die Uhr.

Die neue Bedeutung der Zeit Ende des 15. Jahrhunderts zeigt sich eindrücklich im Tagebuch des Wieners Johannes Tichtel. Der Arzt und Universitätsprofessor hielt in seinen Aufzeichnungen, die die Jahre 1477 bis 1495 umfassen, auch die Geburten seiner drei Söhne fest - mit einer für die damalige Zeit beispiellosen Präzision.

So notierte er, dass sein ältester Nachkomme Leopold am 4. Juni 1480 zwei Stunden und drei Minuten nach Mittag geboren wurde, der zweite Sohn am 8. März 1482 in der ersten Stunde und dritten Minute nach Mitternacht und der dritte Junge am 11. August 1484 ein Viertel vor der sechsten Stunde am Morgen. Moderner ging es nicht.

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