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Bilanz der Ära Schröder Der Zwischenkanzler

Gerhard Schröder war der dritte sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik - und der widersprüchlichste von allen. Sicher ist: Ohne seine persönliche Strahlkraft hätte es Rot-Grün nicht gegeben. Was wird von diesem Zwischenkanzler bleiben?
Von Claus Christian Malzahn

Berlin - Konrad Adenauer führte Deutschland nach Westen. Willy Brandt öffnete die Grenzen nach Osten, Helmut Schmidt verteidigte die Republik gegen den Terrorismus - und Helmut Kohl sicherte die Wiedervereinigung. Außer den Mini-Kanzlern Kurt-Georg Kiesinger und Ludwig Erhard wird man jedem von ihnen zubilligen, eine Ära der Nachkriegsgeschichte geprägt zu haben.

Und Schröder? Sieben Jahre hat er regiert, nicht einmal halb so lang wie sein Vorgänger Helmut Kohl, aber länger als der SPD-Gott Willy Brandt. Vielleicht wird Gerhard Schröder als Interimskanzler in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen. Vieles bei ihm lag zwischen Baum und Borke, eine klare Bilanz ist schwer zu ziehen. Er hat die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr im Kosovo und in Afghanistan zu verantworten - und ließ sich im letzten Wahlkampf als "Friedenskanzler" feiern.

Er rettete sich mit staatskapitalistischen Aktionen bei der Holzmann-Pleite wieder in die politische Gewinnzone - und stieß gleichzeitig die Entflechtung der Deutschland-AG an. Schröders Regierung stellte Veräußerungsgewinne steuerfrei und ermöglichte es damit den großen Konzernen, sich von wechselseitigen Beteiligungen und Tochtergesellschaften zu trennen. Eine finanzpolitische Deregulierung, die Kohl nie gewagt hätte. Löwenmutig stieg er mit der Agenda 2010 in den Ring. Er wusste, wie gefährlich dieser Kampf werden würde, weil er offen mit der in der SPD verbreiteten Vorstellung staatlicher Vollversorgung brach. Nach der Verkündung dieses Programms wirkte er dennoch seltsam verwundbar, manchmal fast hilflos, schockstarr. Schröder scheute im Sommer 2004 das persönliche Risiko nicht, das politisch Notwendige zu tun. Aber er verstand es lange nicht, seine Partei davon zu überzeugen, dass er mit diesem Programm kein Mobbing der Arbeiterklasse betreiben, sondern die Sozialsysteme retten wollte.

Trotzdem: Getan ist getan. Die "Zeit" hat das Patriotismus genannt, auf jeden Fall war es verantwortungsvolles Handeln ohne Rücksicht auf sich selbst und die eigene Klientel. So etwas findet man selten in der Politik, umso mehr fiel Schröders Haltung auf.

Neue Außenpolitik - aber wohin?

Gleichzeitig war Gerhard Schröder der erste Kanzler, der nach dem Ende des Kalten Krieges neue Ansprüche an deutsche Außenpolitik formulierte. Doch hier agierte er - anders als etwa Willy Brandt oder Helmut Kohl - ohne erkennbaren Plan und Vision. Schröders Deutschland war zwar plötzlich "Mittelmacht" - ein Terminus, den viele Bonner Politiker erst einmal im Lexikon nachschlagen mussten. Aber was steckte als Idee wirklich hinter dieser Vokabel? Der Kanzler strebte aufs Hochseil der Weltpolitik, ohne Netz und doppelten Boden - und stürzte ab. Deutschland ist von einem Sitz im Weltsicherheitsrat weiter entfernt denn je. Gebraucht haben wir den Sessel in New York sowieso nie. Und seine Auftritte auf internationalem Parkett folgten eher medialen Inszenierungen denn einer klaren politischen Agenda. Für Schröder war Außenpolitik meist die Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln.

Schröder verstieg sich in Forderungen nach einem Ende des Waffenembargos gegen China. Das war Wirtschaftspolitik - ohne Rücksicht auf Verluste. Er zögerte nicht einmal, Antiamerikanismus als Stilmittel zum Machterhalt einzusetzen. Gut gelaunt und mit durchgedrücktem Rückgrat präsentierte er aller Welt seine Freundschaft mit dem russischen Quasi-Zaren Wladimir Putin. Was er mit dieser Herrenpose in Polen und auf dem Baltikum angerichtet hat, war ihm entweder nicht bewusst, oder - das macht es eher schlimmer - ziemlich egal.

Seine Fehleinschätzungen hat er seit jeher mit gehörigem Selbstbewusstsein verkündet. Die Wiedervereinigung hielt er 1989 noch für eine "Lebenslüge", der Eintritt der DDR-Bürger in die westdeutschen Sozialsysteme war ihm 1990 noch suspekt. Und dann brachte er es fertig, dass ihn die Ostdeutschen acht und zwölf Jahre später zum Kanzler machten. Vielleicht war das Schröders größter Erfolg - und sein größter Trick.

2002 ging seine Regierung mit nur einigen tausend Stimmen in die Verlängerung. Damit bewies die erste Generation deutscher Politiker, die keinen persönlichen Anteil mehr am Zweiten Weltkrieg hatte, dass sie imstande war, politisch zu reüssieren. Rot-Grün war in der Gesamtbilanz deshalb viel mehr als bloß eine zufällige Episode der deutschen Geschichte - obwohl selbst Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering zum Ende hin Bemerkungen in diese Richtung machten. Rot-Grün hat die Republik einerseits entstaubt, anschließend leider oft Lametta aufgehängt. Allerdings gehen viele Modernisierungsschritte, die diese Koalition zum Beispiel im Staatsbürgerschaftsrecht gegangen ist, eher auf das Konto der Grünen. Die Frage, wer bei Rot-Grün Koch und wer Kellner war, ist deshalb viel schwerer zu beantworten, als es Schröder lieb sein kann.

Das Bündnis Schröder/Fischer war von beiden zwar lange erträumt, im Jahre 1998 allerdings keineswegs konkret geplant. Schröder rechnete damals - wie übrigens auch fast alle anderen Protagonisten in Bonn, Journalisten inklusive - mit einer Großen Koalition. Die kommt nun mit einer Verzögerung von sieben Jahren - ohne Schröder, mit CDU-Chefin Angela Merkel. Natürlich hätte er seiner Partei einen Gefallen getan, wenn er unter "dieser Frau", wie er sie nennt, Vizekanzler geworden wäre. Aber das hätte nur eine emotionslose Politikmaschine fertig gebracht, Schröder aber ist ein instinktgetriebenes political animal; und ein Alphatier dazu. Es war klug von ihm, das heitere Postenraten am Dienstagabend in Berlin endlich zu beenden. Schröders munteres Beruferaten wird nun freilich trotzdem anfangen.

Zurück zur Partei, die er nie liebte

Gerhard Schröder war kein 68er, aber er führte eine Regierung, die politisch ausdrücklich Bezug auf dieses mythenbeladene Rebellionsjahr genommen hat. Er gehört zu jener Juso-Generation von Sozialdemokraten, die dem SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt keine Träne nachweinten, als er im Herbst 1982 aus dem Amt schied. Der kulturelle - und politische - Graben zwischen dem Nachkriegskind Schröder und dem Weltkriegsoffizier Schmidt war gewaltig. Die Parallelen zwischen beiden sind dennoch unübersehbar.

Der eine verteidigte den Nato-Nachrüstungsbeschluss gegen seine Partei, wie der andere die Arbeitsmarktreform gegen die Stimmung des sozialdemokratischen Milieus verteidigt hatte. Schröder und Schmidt scheiterten letztlich beide an ihrer Klientel, der man manche neue Politik, aber nicht jeden forschen Ton zumuten kann. Beide erkannten zu spät, dass man sich kulturell nicht zu weit von ihr entfernen darf. Die SPD ist zwar ziemlich alt, aber geknuddelt werden will sie immer noch.

In den vergangenen Monaten bemühte sich Schröder, den Graben zwischen ihm und der verharzten Basis zu schließen. Nie gab er sich so sozialdemokratisch wie heute. Und umgekehrt gab es in der SPD nach der Wahl bisher keine Schröder-Debatte, sondern im Gegenteil Solidaritätsbekundungen an seine Adresse, die zum Teil grotesken, realsatirischen Charakter trugen. Ein Hauch von Mao-Kult lag über der Partei. Der wird nun wieder verwehen. Schröder hat seiner Partei die erneute Teilhabe an der Macht beschert. Deshalb werden die Genossen ihn schonen. Zum neuen Willy Brandt ist er deshalb trotzdem nicht geworden. Die SPD wird ihn aber auch nicht in die Wüste jagen wie Helmut Schmidt, der seiner Partei in den achtziger Jahren etwa so nahe stand wie Heiner Geißler heute der CDU. Vielleicht weiß nicht einmal Schröder selbst heute, wie er sein Verhältnis zur SPD künftig bestimmen soll.

Was war an Schröder echt? Die Belegstelle lieferte ausgerechnet ein Paparazzo. Der hatte den Kanzler, der anfangs nur mit Hilfe der Bild-Zeitung und des Fernsehens regieren wollte, mit einem Teleobjektiv im August 2004 in Rumänien fotografiert. Schröder stand am Soldatengrab seines Vaters. Ein Nachkriegsbild aus der Fremde war das: Ein Sohn weint um seinen Vater, den er nicht kannte.

Der private Moment ging uns alle gar nichts an. Trotzdem haben wir uns dieses von Trauer und Schmerz gezeichnete Gesicht genau angesehen. Von Willy Brandt gibt es das Bild des Kniefalls am Mahnmal des Warschauer Ghettos, von Helmut Kohl das vom Händehalten mit François Mitterand in Verdun. Beide Bilder waren Ausdruck des jeweiligen Kanzler-Credos. Vom Medienkanzler Schröder gibt es Tausende Fotos. Das aus Rumänien spiegelt kein politisches Programm, sondern nur einen winzigen Auschnitt aus der klaffenden europäischen Wunde des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs, die auch heute noch manchmal blutet. Das Bild war nicht geplant - und nicht gefälscht. Auch deshalb ragt es so heraus.

Schröders Programm war er selbst. Warum auch nicht. Ein Land, in dem sich der Sohn einer alleinstehenden Putzfrau zum Regierungschef hocharbeiten kann, ist in seinen Grundzügen in Ordnung. Auf so ein Deutschland darf man sogar stolz sein. Ansonsten war Gerhard Schröder der widersprüchlichste Kanzler, den die Republik jemals erlebt hat. Er hat nach der Wahl Anspruch auf ein Amt angemeldet, dass er vorher quasi freiwillig zur Disposition gestellt hatte. Außer ihm - und der Opposition - wollte niemand Neuwahlen. Die akute Putschgefahr, die er später an die Wand malte, um gegenüber dem Bundespräsidenten die Wahlen zu rechtfertigen, hat so nie bestanden. Schröder ging, weil er kein Sitzfleisch hatte, weil er Angriff immer besser konnte als Verteidigung. Einem Kohl wäre das nicht passiert. Der wäre sitzengeblieben - bis zum Schluss.

Gerhard Schröder war Regierungschef in einer Zwischenzeit - und der erste Chef eines Kabinetts der Berliner Republik. Das kann ihm niemand nehmen. Denn nach Bonn führt kein Weg mehr zurück, auch wenn die Große Koalition die Bonner Republik vielleicht noch einmal beschwören wird.

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