Yuval Noah Harari ist der Pop-Star unter den Historikern. Aber im Grunde versteht er sich als Prophet. Seine Vision: Er erkennt, warum es mit dem Menschen zu Ende geht

Der israelische Bestsellerautor erklärt uns eine Welt, die wir erst verstehen, wenn es sie nicht mehr gibt. Dem Sog seiner Suggestionen kann man sich kaum entziehen.

Gernot Böhme
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Die längste Zeit ihres Daseins war die Erde ein Ort ohne Menschen. Dann entstand der Homo sapiens, und mit ihm die Kraft der Fiktion. Landschaft in der Sahara.

Die längste Zeit ihres Daseins war die Erde ein Ort ohne Menschen. Dann entstand der Homo sapiens, und mit ihm die Kraft der Fiktion. Landschaft in der Sahara.

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Yuval Noah Harari ist Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sein Lehrgebiet ist die Universalgeschichte, aber er legt es wesentlich weiter aus, als man das gewöhnlich tut. In seinem Buch «Sapiens. A Brief History of Humankind» stellt er die Universalgeschichte als Geschichte der Spezies Homo sapiens dar, also im naturgeschichtlichen Zusammenhang. Auch die methodische Auffassung von Geschichte als Erzählung hat Harari weiter ausgedehnt. Und zwar insofern, als er das Hervortreten des Menschen als Homo sapiens aus der Gruppe der Hominiden durch die Erfindung von Sprache als Erzählung charakterisiert.

Die Überlegenheit des Homo sapiens über andere Hominiden, die sich etwa 40 000 Jahre v. Chr. zu zeigen begann, sagt Harari, sei dessen einzigartiger Begabung zu verdanken, über Nichtreales zu sprechen, also der Fähigkeit zur Fiktion. Damit habe er ein Prinzip gewonnen, um immer grössere Mengen von Menschen zu organisieren. Nun ist zu beachten, dass die organisierende Kraft von Erzählungen nicht von ihrem Inhalt ausgeht, sondern von dem geteilten Glauben daran.

Diese Unterscheidung ist wichtig, weil Harari meist einfach von Fiktionen und Phantasien spricht, etwa indem er sagt, die Macht des Geldes beruhe auf einer Fiktion. Er unterscheidet auch nicht zwischen Märchen und Legenden, etwa vom Gottesgnadentum eines Herrschaftsgeschlechtes. Auch diese Unterscheidung wäre wichtig. Es gibt Fiktion und Fiktion. Die literarische Gattung «fiction» etwa wird von Geschichten gebildet, an deren Wirklichkeit man gerade nicht glaubt.

Allerdings gibt es wirkungsmächtige Geschichten, an deren Inhalte grosse Menschengruppen glauben – von dieser Art sind die Religionen. Deren Abfolge gliedert nach Harari die Universalgeschichte des Menschen, wobei er nicht zögert, auch den Kapitalismus und schliesslich die Digitalisierung (die Religion des Dataismus) als Religionen zu bezeichnen.

Eine Geschichte glauben

Es gibt Formen menschlicher Organisation, die auf dem geteilten Glauben an eine Geschichte beruhen. Man nennt sie mit dem Soziologen Ferdinand Tönnies Gemeinschaften. Tönnies unterscheidet sie von Gesellschaften: Während Gemeinschaften von Menschen eins sind durch den Befehl einer Obrigkeit oder durch einen geteilten Glauben, kommen Gesellschaften durch Interaktionen ihrer Mitglieder zustande, die etwa auf Arbeitsteilung und Markt beruhen. Da Harari diesen Unterschied nicht macht, wird die Menschheitsgeschichte bei ihm zur Religionsgeschichte, zu einer Abfolge von geglaubten Fiktionen.

Doch moderne Vergesellschaftung unterscheidet sich von traditionaler Vergemeinschaftung. Das verkennt Harari, und deshalb verkennt er auch die weltweite Vernetzung von Menschen, die eine neue Art von Organisation von Menschen ist. Eine, die Gesellschaften überschreitet. Harari bezeichnet sie irreführend als «globales Dorf». Wenn man die vernetzten menschlichen Ensembles Gesellschaft nennt, so beruht ihre Vergesellschaftung auf einer Infrastruktur, dem World Wide Web, und die Zugehörigkeit der Menschen definiert sich dadurch, dass sie daran angeschlossen sind. Ein geteilter Glaube ist nicht mehr erforderlich. Die Vernetzung der Menschen als neue Religion zu bezeichnen, ist deshalb verfehlt. Es ist eine Mystifikation des gegenwärtigen Geschehens.

Martin Heidegger hat schon in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts von der Neuzeit als «Zeit des Weltbildes» gesprochen – und damit die Gültigkeit dieses Begriffs auf eine bestimmte Geschichtsepoche eingegrenzt. Dieser Skepsis verwandt ist François Lyotards Aufruf, es sei Zeit, die «grossen Erzählungen», die die Rationalität der Wissenschaften rechtfertigen sollten, aufzugeben und stattdessen Konsistenz in regionalen Diskursen anzustreben.

Unbekümmert durch solche Skrupel hat Harari sich darangemacht, nun selbst eine neue grosse Erzählung zu konzipieren. Sie lautet, kurz gefasst, dass unsere Epoche der Menschheitsgeschichte einem Ende zustrebt, hoffnungs- oder verhängnisvoll. Weil der Mensch sich zum Übermenschen oder Gott übersteige oder aber überflüssig werde. So oder so: Mit dem Homo sapiens geht es zu Ende.

Kein Krieg und unendliches Glück

Diese grosse Erzählung will Harari zum Dogma der postmodernen Menschheit machen. Er möchte, dass die Menschen seine Geschichte glauben. Er tritt als Menschheitslehrer auf. Und man kann sich den Suggestionen und den anschaulichen Beispielen, mit denen er in seinen Büchern arbeitet, kaum entziehen. Schliesslich prophezeit er, worauf die Geschichte der Menschheit hinausläuft.

Harari macht im Wesentlichen drei Tendenzen aus: Erstens wird der Krieg als Form des menschlichen Miteinanders überwunden werden; zweitens werden Krankheiten verschwinden, beziehungsweise sie werden abgeschafft; und, drittens, wird sich für alle individuelles Lebensglück einstellen. Die eindrücklichen Fortschritte, welche die Menschheit auf dem Weg zu diesen Zielen macht, versucht Harari in Statistiken plausibel zu machen.

Doch die Überwindung der Sterblichkeit, das Glück der Menschen, die Vervollkommnung des Menschen zum Gott ist nur eine Seite seiner Prophezeiungen. Der ungeheure Fortschritt der Medizin – oder wie Harari sagt: der Biologie –, der den Übergang ins Transhumane ermöglicht, macht den Menschen auch überflüssig. Zumindest «en masse», also als Arbeiter und Krieger: Die Algorithmen übernehmen das Geschäft. Um die überflüssigen Menschenmassen werden sich die Eliten nicht mehr kümmern, weil sie nicht mehr gebraucht werden.

Allerdings sind die Dinge und Verhältnisse, die uns wichtig scheinen, nach Harari in Wahrheit blosse Phantasien und Fiktion. In seinem Buch «Homo Deus» schreibt er: «Jede menschliche Zusammenarbeit im grossen Stil beruht letztlich auf unsrem Glauben an erfundene Ordnungen. Das sind Gefüge von Regeln, die zwar in unserer Fantasie existieren, die wir aber für so real und unumstösslich wie die Schwerkraft halten.»

Fiktive Wirklichkeiten

Wirklich real wären also nur naturwissenschaftliche Fakten. Alles andere: Fiktionen, Phantasien. Dabei unterscheidet Harari drei Arten von Entitäten: erstens die Dinge und Tatsachen, die objektive Realität; zweitens die subjektiven Erlebnisse, die man heute als «Geist», im Englischen «mind», zusammenfasst. Entscheidend für Hararis Ontologie ist nun die dritte Art, nämlich die intersubjektiven Realitäten oder auch fiktiven Realitäten.

Sie entstehen, wenn wir an etwas glauben oder, wie Harari schreibt, «wenn wir den Inhalten unserer Fiktionen reale Macht zuschreiben». Das ist aber wohl zu wenig gesagt, denn die «Realität» dieser Fiktionen hängt ja nicht vom Glauben des Individuums ab. Geld, der Staat, aber auch Götter gehören zur Gruppe der intersubjektiven Entitäten. Was es mit ihnen auf sich hat, lässt Harari in der Schwebe, indem er sie mit aufklärerischer Geste als blosse Phantasien bezeichnet, ihnen aber doch «reale Macht» zuschreibt. Worin die Quasirealität der intersubjektiven Realität besteht, ist unklar.

Harari hätte das in seiner Wissenschaftsgläubigkeit in der Biologie studieren können. So bilden Schleimpilze, die zunächst und zumeist Einzeller sind, unter gewissen Umweltbedingungen Organismen, sogar solche mit funktionaler Zelldifferenzierung. Das Beispiel zeigt, dass die Bildung von höheren Organismen bei den einzelnen Elementen keine Formen von Bewusstsein voraussetzt. Charakteristisch ist, dass sich die höheren Organisationsformen gegenüber den einzelnen Menschen verselbständigen und ihnen als quasiobjektive Macht entgegentreten. Aber worin besteht diese Selbständigkeit?

Algorithmen, überall

Intersubjektive Entitäten existieren als Institutionen. Diese können durchaus durch Realitäten existieren, wichtiger aber ist, dass sie von einer Anzahl von Personen getragen werden, die sie repräsentieren und die umgekehrt von der Institution autorisiert sind – von Beamten.

Die Institutionen hängen nicht von den konkreten Einzelpersonen in ihrer Existenz ab. Auch überleben sie die jeweils zu ihnen gehörenden Menschen. Zwar kann es sein, dass Erzählungen die Legitimität der Institutionen absichern, doch konstituieren sie sie nicht. Sie sind den jeweiligen Einzelmenschen gegeben. Erst seit der Französischen Revolution wird unterstellt, dass der Staat als Republik auf der Zustimmung aller Einzelnen beruhe. Diese Zustimmung wird faktisch nur unterstellt: Jeder Mensch wird als Bürger in den Staat hineingeboren.

Die Realität des Staats beruht auf der Verfügung über materielle Gewaltmittel. Diese hat sich historisch als Gewaltmonopol herausgebildet. Zwar ist der einzelne Mensch kein Untertan mehr, doch auch hier zeigt sich, dass die «intersubjektive Entität», hier der Staat, nicht durch den Glauben des Einzelnen an Fiktionen konstituiert wird, sondern dass der einzelne Mensch in seinen Dispositiven als Staatsbürger durch die übergeordnete Organisation geprägt ist, in die er hineingeboren wird.

Algorithmus ist ein Modewort geworden. Es ist chic, überall Algorithmen am Werke zu sehen. Entscheidend dafür war die Tatsache, dass die sozialen Netzwerke mithilfe der Daten, die sie zu Einzelpersonen sammeln, Profile dieser Personen erstellen, die dann genutzt werden können, zum Beispiel für individuell angepasste Werbung. Harari folgt dem Trend, Algorithmen als wichtigste Interaktionsform in und zwischen Organismen zu sehen. Und zwar aufgrund der Erkenntnis, dass die DNA im Organismus die Stoffwechselprozesse, einschliesslich des Wachstums, zustande bringt. Und dass diese Prozesse nicht einfach kausal zu verstehen sind, sondern als Prozesse der Informationsverarbeitung.

Was ein Lebewesen ist

Organismen sollen also Algorithmen sein. Diese These ist für Hararis «grosse Erzählung» zentral. Aber trifft sie zu? Denn wenn Organismen, also auch wir Menschen, Algorithmen sind, dann können wir nach hinreichender Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) ebenso gut oder besser von aussen gesteuert werden. Subjektive Reaktionen, der Geist im Sinne von «mind» sind dann nach Harari überflüssig. Was wir Glück nennen, könnte durch neuronale, hormonale oder genetische Steuerung hervorgebracht werden.

Philosophiegeschichtlich ist Hararis These, Organismen seien Algorithmen, Platonismus. Nach Platon ist das, was der Mensch eigentlich ist, die Idee «Mensch». Goethe hat im zweiten Teil des «Faust» in der Geschichte des künstlichen Menschen, des Homunculus, vorgeführt, dass der Mensch als solcher gar nicht lebensfähig ist: Er existiert nur in der Phiole: Es fehlt ihm das Materielle.

Doch auch die These, dass der Mensch ein Ganzes aus Form und Materie sei, könnte zu kurz gegriffen sein, denn die Organisation kann die Materie in ihren Elementen verändern. Emergenz, also eine aus vielem bestehende höhere Einheit, baut das viele nicht einfach zusammen wie Lego-Klötzchen, sondern modifiziert die Elemente. Solche Organisation der Organismen kann man nicht in Analogie zum Herunterladen eines Softwareprogramms verstehen. Ein Organismus ist also nicht einfach ein Algorithmus.

Hinzu kommt: Organismen sind Lebewesen, aber sie sind es nur in Symbiose mit anderen. Man hat das jüngst beim Menschen hervorgehoben, weil sich der Mensch bisher weitgehend als von anderen Lebewesen separat existierend verstanden hat. Dieses Getrenntsein hat zwar Stoffwechsel nicht ausgeschlossen, doch wurde der Lebensprozess des Organismus Mensch als für sich vollziehbar gedacht.

Billionen von Bakterien

Das ist aber nicht der Fall: Der Mensch kann nur leben in Symbiose mit Bakterienstämmen in seinem Darm, die Billionen von Organismen umfassen. Und das ist nicht einfach ein Parallelvorgang. Das Zusammensein des Menschen mit Bakterienstämmen ist tatsächlich ein gemeinsames Leben. Mit der Auffassung, der Mensch sei ein Algorithmus, den man ebenso gut auch in einer KI-Maschine ablaufen lassen könnte, ist das schlicht nicht vereinbar

Yuval Noah Harari ist Historiker, also Geisteswissenschafter. Dieser Hintergrund führt aber bei ihm nicht zum geringsten Zweifel an der Wissenschaft als «science». Das verkennt einen zentralen Aspekt. Gerade wegen ihrer Objektivität ist die Naturwissenschaft nicht für Sinnfragen zuständig. Dafür sind die «humanities» da, auch die Geschichtswissenschaft. Harari erzählt die Geschichte der Menschheit als Abfolge von Religionen. Die Geschichtswissenschaft wird bei ihm dementsprechend zur grossen Erzählung der menschlichen Sinnstiftung durch Religionen.

«Das heilige Wort ‹Freiheit› erweist sich, wie die ‹Seele›, als leerer Begriff, der keine erkennbare Bedeutung hat»: Yuval Noah Harari räumt auf mit idealistischen Konzepten.

«Das heilige Wort ‹Freiheit› erweist sich, wie die ‹Seele›, als leerer Begriff, der keine erkennbare Bedeutung hat»: Yuval Noah Harari räumt auf mit idealistischen Konzepten.

Olivier Middendorp

Hararis Glaube an die «science» bleibt dabei unerschütterlich. Naturwissenschaftliche Arbeiten werden als Wahrheit zitiert. Das gilt vor allem für die Biowissenschaften: Sie haben «die Seele entsorgt». Und allgemein gilt: «Je besser wir das Gehirn verstehen, desto überflüssiger wirkt der Geist.» Offenbar sind wir so weit, auch den Begriff der Freiheit entsorgen zu können. Der Mensch ist nicht frei, sondern durch seine biochemischen Prozesse im Gehirn gesteuert.

Die Entsorgung des Freiheitsbegriffes wird mit einem Experiment des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet von 1985 begründet. Versuchspersonen mussten Entscheidungen fällen und dazu bestimmte Knöpfe drücken. Dabei zeigte sich, dass im Gehirn einer Versuchsperson bereits «ein paar Millisekunden bis zu ein paar Sekunden» vor einer Handlung ein Potenzial zu dieser Handlung besteht. Also noch bevor sich die Versuchsperson zu dieser Handlung «entschliesst», bevor ihr bewusst wird, dass sie diese Handlung vollziehen will.

Freiheit? Ein leerer Begriff

Harari zitiert Experimente, die Libets Ergebnisse bestätigen, aber keine, die sie relativieren oder widerlegen. Für ihn steht fest: «Freiheit» ist ein leerer Begriff, wie «Seele». «Wenn eine biochemische Kettenreaktion in mir den Wunsch weckt, den rechten Knopf zu drücken», schreibt er, «habe ich das Gefühl, dass ich den rechten Knopf tatsächlich drücken will. Und das stimmt. Ich will ihn wirklich drücken. Daraus jedoch schliessen die Menschen irrtümlicherweise, dass ich, wenn ich ihn drücken will, mich auch dazu entschliesse, das zu wollen. Das ist natürlich falsch. Ich entscheide mich nicht für meine Wünsche, ich spüre sie lediglich und handle entsprechend.»

Der letzte Satz ist ein Fehlschluss. Denn in dem Moment, in dem mir mein Wunsch bewusst wird, habe ich die Möglichkeit, mich auch gegen ihn zu entscheiden. Man kann auch gegen seine Wünsche handeln. Aber Harari erkennt nicht, dass das Bewusstsein einen zusätzlichen Freiheitsgrad zur Verfügung stellt. Seine Konsequenz: Nach hinreichender Entwicklung der Algorithmen seien demokratische Wahlen überflüssig. Man könne auf der Basis von Persönlichkeitsprofilen oder durch direktes Abgreifen von Handlungstendenzen im Gehirn feststellen, welche Partei eine Person wählen wird.

Das lässt sich leicht widerlegen, indem man anstelle der Algorithmen durch einen Wahl-O-Maten entscheiden lässt, welche Partei man wählen würde – und dann doch eine andere wählt. Sei es aus Trotz oder wegen eines Gesichtspunktes, der im Wahl-O-Maten nicht vorgesehen ist. Der entscheidende Punkt ist, dass Harari einen direkten Übergang vom Wunsch zur Handlung unterstellt, während – wie die Tradition seit Sokrates feststellt – die Freiheit gerade in der bewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen ihren Ort hat.

Hararis «science»-Gläubigkeit zeigt sich auch darin, dass er die rein auf das sicht- und messbare Verhalten ausgerichtete, behavioristische Zugangsweise zur Erkenntnis des Menschen für die einzig wahre hält. Nach Harari kennen einen die Algorithmen besser, als man sich selbst kennt. Doch was soll das heissen? Harari bezieht sich hier auf die automatische Profil-Bildung, die die sozialen Netzwerke von einzelnen Menschen herstellen. Sie entstehen anhand der Spuren, die der einzelne Mensch im Netz hinterlässt.

Das Selbst, das jeder bilden muss

Was aus dieser Sicht «besser kennen» heisst, ist eine Kenntnis von aussen, die sich ausschliesslich am Menschen als Phänotyp orientiert. Das entspricht der Vorgangsweise der «science»: Ob ein Mensch sich freut, ob er deprimiert ist usw., liest sie ab von den Daten, die sich etwa an seiner Haut oder auch in seinem Gehirn abgreifen lassen. Doch das Selbst, mit dem jeder Mensch fertigwerden muss, ist nicht seine Erscheinung, sondern die Weise, in der er sich selbst gegeben ist.

Sie ist recht vage und kommt von fern her. Das Selbst ist zu unterscheiden vom bewussten Ich, das jeder Mensch herausbilden muss, um als mündiger Mensch anerkannt zu werden und sich selbst anzuerkennen. Und es ist deutlich zu unterscheiden vom Erscheinungsbild, das sich der Mensch aus sozialen Gründen geben muss. Allerdings, wenn es um ernste Entscheidungen geht, muss ein Mensch versuchen, nicht nur nach bestimmten Kriterien zu handeln, sondern so, dass er durch dieses Handeln mit sich selbst «einig ist».

Dazu muss er sein Selbst kennenlernen, von dem er normalerweise nur ein Gespür hat, das in ihm schlummernd noch unbestimmt ist. Die Entscheidung in ernsten Lagen führt also zugleich zu einer Klärung und Festlegung dessen, was man eigentlich selbst ist. Und wie sollten die Algorithmen davon etwas wissen? Sie gehen in ihrer Spurenverfolgung immer nur von Daten aus, sind radikal behavioristisch, und Harari ist es mit ihnen.

Angesichts der manchmal erstaunlichen Vollmundigkeit, mit der Harari seine Thesen vertritt, ist es bemerkenswert, dass im jüngsten Buch «21 Lessons for the 21st Century» nun Begriffe wie Demut, Nichtwissen und Resilienz auftauchen. Entscheidend für diese Wendung ist das Schlusskapitel über Meditation. Angesichts der endzeitlichen Perspektiven kommt Harari nun doch zu der Frage, wie wir leben sollten: mit einer gewissen Bescheidenheit nämlich– und so, dass unsere Widerstandskräfte gestärkt werden.

Die Regung des Bewusstseins

Während er in den ersten beiden Büchern quasi als Lehrer der Menschheit auftrat, nimmt sich Harari hier sehr zurück und äussert sich sehr persönlich. Etwa indem er sich über Inhalt und Absicht der von ihm praktizierten Vipassana-Meditation äussert. Er beschreibt die Praxis dieser Meditation als Achten darauf oder Erforschen dessen, was sich in den Regungen des Bewusstseins zeigt. So fragt er sich, worin Ärger besteht. Er hat es also mit dem Inhalt dessen zu tun, was als «mind» bezeichnet wird – im Deutschen unglücklicherweise als Geist.

Geist ist für Harari in seinen ersten beiden Büchern etwas, das entsorgt werden sollte, zusammen mit Seele und Gott. Doch nun zeichnet sich ein Ernstnehmen von geistig-seelischen Phänomenen ab. Gleichwohl betrachtet Harari die Inhalte des Bewusstseinsflusses nach wie vor als reine Informationen und unterstellt, dass wir letztlich doch nur informationsverarbeitende Maschinen seien, die besser von maschinellen Algorithmen «gesteuert» werden sollten.

Damit verkennt Yuval Noah Hararis Anthropologie weiterhin das Entscheidende an den Bewusstseinsphänomenen: die Betroffenheit. Zwar stellt er nun fest, dass Leiden – eine subjektive Realität – die eigentlich wirkliche Realität sei: «The most real thing in the world is suffering.» Kann man sich nach einem solchen Satz noch zum Menschheitsprojekt der Abschaffung des Leidens bekennen?

Gernot Böhme ist emeritierter Professor für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt.

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